Was soll das, Netflix? Achtsam Morden vergeigt das Finale mit einer ärgerlichen Änderung (2024)

Seit letztem Donnerstag kann das Netflix-Publikum 8 Folgen lang einatmen ... ausatmen ... und dann Achtsam Morden. Denn nachdem der Berliner Rechtsanwalt Björn Diemel (Tom Schilling) ein Achtsamkeitsseminar besucht, bekommt er sein stressiges Leben mit Familie, Job und kriminellen Clans viel besser in den Griff – auch wenn er dafür über Leichen gehen muss.

Über lange Strecken geht das Serienkonzept des Normalos, der zum kriminellen Genie mutiert, auf. Anknüpfend an ambivalenten "Helden", wie wir sie aus Breaking Bad, Dexter oder den Sopranos kennen, liefert Hauptautor Doron Wisotzky für Netflix eine vergnüglich-bitterböse Adaption der Romanvorlage* von Karsten Dusse ab. Umso ärgerlicher ist es, dass die Netflix-Verfilmung in ihren letzten Momenten strauchelt.

Achtsam Morden hält sich eng an die Buchvorlage, aber stolpert am Schluss

Tom Schilling verriet im Moviepilot-Interview, dass es bei der Serien-Umsetzung viel darum ging, "werkgetreu, näher am Roman zu bleiben". Das merkt man der Netflix-Adaption an. Die einzig größere Änderung ist, dass der Kommissar aus dem Buch nun eine Kommissarin ist: Nicole (Britta Hammelstein). Sonst hält die Serie sich sehr dicht an die Handlung und den Tonfall der Literaturvorlage.

So kann das Serienpublikum den Bestseller samt übernommener Ich-Erzählerstimme fast 1:1 erleben, ohne selbst je eine Seite umzublättern – mit allen Stationen und Haken, die Achtsam Morden schlägt. Wenn da nicht diese kleine Änderung am Ende wäre.

Eigentlich ist das Ende von Achtsam Morden nur eine etwas andere Anordnung der Elemente: Im Buch ist das Letzte, was Björn tut, Gangsterboss Boris (Luca Maric) nach seinem erfolgreichen Drohnen-Schreck-Manöver in seinen Kofferraum steigen zu lassen. Die Serie hingegen geht danach noch weiter: Die gerade erfolgreich mit einem Kita-Platz abgespeiste Polizistin Nicole lauscht Björns defektem Vogelspielzeug, das verzerrt sein Geständnis wiedergibt "Ich habe meinen Mandanten zerstückelt und bin frei."

Auf den ersten Blick erscheint die Story-Umstellung unbedeutend. Schließlich existieren das plüschige Aufnahmegerät und der willige Gangster im Kofferraum auch im Buch. Auf den zweiten Blick ist die Änderung jedoch eine herbe Enttäuschung – weil sie das ideale Ende vergeigt.

Staffel 2 statt runde Sache: Warum das Ende von Achtsam morden den Seriengenuss bei Netflix schmälert

Im Roman ist der sich schließende Kofferraum über Björns letztem großen Gegenspieler der optimale Abschluss einer kompromisslosen Erzählung: Die Geschichte begann damit, dass der Anwalt sich seines unliebsamen Mandanten Dragan (Sascha Alexander Gersak) entledigte, indem er vom Fluchthelfer zum Mörder wurde und den Kriminellen hinten in seinem Auto ersticken ließ. Folglich ist der gelungene Zirkelschluss des auf gleiche Weise entledigten Rivalen, der ebenso willig sein eigenes Ende besiegelt, eine gelungen runde Sache.

"Klappe zu, Affe tot", suggeriert uns Achtsam Morden, ohne abermals den Kreislauf der Zerstückelung und Seebeseitigung ausbuchstabieren zu müssen. Unabhängig davon, wie das zweite Buch die Boris-Geschichte fortführt, ist es das perfekte Kopfkinoende: bitterböse und schwarzhumorig bis zum Schluss. Das belastende Kuscheltier wurde vorher schon zur Bedrohung und wieder entschärft, weil es nicht für voll genommen wird.

Die Netflix-Seriehingegen scheint mit ihrem offeneren Ende, also dem Fund einer gefährlichen Spur, unbedingt die Tür für Staffel 2 aufstoßen zu wollen. Schließlich gibt es vier weitere Romane, also das Potenzial für vier weitere Staffeln. Solche Cliffhanger sind beim seriellen Erzählen natürlich nicht unüblich. Traurig ist es trotzdem, wenn es zulasten der Punktlandung am Ende geht.

Ist Netflix zu feige für ein "böses" Ende?

Das Problem ist aber nicht nur das Lechzen nach einer Fortsetzung, sondern auch das, was diese Gier im Vorbeigehen anrichtet: Die Serie traut sich nicht, ein moralisch fragwürdige Figur gewinnen zu lassen. Dabei sind wir doch längst nicht mehr in der Epoche der Gangsterfilme der 1930er, wo jeder erfolgreiche Verbrecher wieder zu Fall gebracht werden musste, um der Moral Genüge zu tun.

Das ehrliche Lippenbekenntnis, dass die meisten Leser:innen der Buchvorlage den literarischen Hit Achtsam Morden gerade für seine Bosheit feiern, stellte sogar Tom Schilling im Interview heraus. Dort meint er, dass 90 Prozent der Lesenden Björn für seine zweifelhaften Taten lieben und 10 Prozent ihn als menschenverachtend bezeichnen:

Alle haben immer diese Angst: Das ist unsere Hauptfigur. Wir dürfen den nicht beschädigen. Der muss nachvollziehbar sein. Der muss freundlich sein. Aber es ist genau umgekehrt. Je weiter er geht, je mehr er sich herausnimmt und erlaubt, desto mehr Freude hat das Publikum mit ihm – ein Großteil jedenfalls.

Genau diese diabolische Freude schmälert die Netflix-Serie am Ende mit dem Fingerzeig, dass der achtsam mordenden Anwalt wohl doch nicht davonkommt, sondern in Zukunft noch zur Verantwortung gezogen wird.

Achtsam Morden vergisst am Schluss seine eigene Achtsamkeit

Statt Achtsam Morden auf einer genüsslich garstigen Note enden zu lassen, wagt die Netflix-Serie also nicht den letzten Schritt in den Abgrund, sondern rudert zurück – was zu schlechter Letzt auch dazu führt, dass der Thriller sein eigenes Konzept der inneren Ruhe verrät.

Da hilft am Ende kein tiefes Ein- und Ausatmen mehr. Tom Schillings Anwalt Björn Diemel mag das Prinzip der Achtsamkeit erlernt haben – also, dass man nicht zwei Dinge auf einmal tut. Die Netflix-Serie kann das nicht von sich behaupten.

Wenn ich ein gelungenes Ende erzähle, erzähle ich ein gelungenes Ende. Und wenn ich eine 2. Staffel ankündige, kündige ich eine 2. Staffel an. Aber ich kündige keine 2. Staffel an, während ich ein gelungenes Ende erzähle. Das ist unachtsam.

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Die 15 Serien-Highlights im November umfassen das Finale des Netflix-Hits Arcane ebenso wie die heiß erwartete Dune-Serie. Außerdem kehren der Sci-Fi-Tipp Silo und das Western-Phänomen Yellowstone mit neuen Folgen zurück.

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